Ich Binz gewesen
Unser Sommerurlaub beginnt mit einer geographischen Überraschung: Ein renommierter Routenplaner schlägt uns die kürzeste Strecke nach Rügen vor - über Tallinn. Mit der Fähre spart man sich einige Autokilometer. Fabelhaft, diese moderne Technik!
Wir schlagen die trickreiche Routenempfehlung allerdings aus und folgen unserem eigenen Plan. Nach einem Zwischenhalt im herrlich mittelalterlichen Duderstadt rollen wir verblüfft durch Lindau(!) und dann sogar buchstäblich Bodensee(!!), zwei hübsche Dörfer im Harz-Vorland. Auch an der Katlenburg kommen wir vorbei, wo mir vor bald einem Vierteljahrhundert während einer Klassenfahrt meine nagelneue Armbanduhr abhanden kam (die Stoppuhr schaffte Hundertstelsekunden, damals wichtig für Zehnjährige). Der Verlust schmerzt noch heute.
Im Ostseebad Binz fällt uns dann als erstes ein Gegensatz auf. An den Straßen: strahlend weiße Architektur im Bäderstil des 19. Jahrhunderts. Auf den Straßen: B-Publikum, das auch Palma de Mallorca alle Ehre machen würde. Kann es sein, daß Binz nicht ganz die Zielgruppe anzieht, die man sich erhoffte? Sogar zwei Drogeriediscounter haben sich in der Flaniermeile angesiedelt - für ein Seebad eine Spur zu funktional gedacht, wie mir scheint. Gleich mehrere Restaurants schreiben "Hänchen" statt "Hähnchen". Man wünscht ihnen ja beinahe, daß ein Gast endlich mal ein H in der Suppe findet.
Systematisch klappern wir in den nächsten Tagen alles ab, was der Osten Rügens hergibt: Kap Arkona, die Kreidefelsen, das Jagdschloß Granitz, Sellin, Göhren ... und natürlich Prora. Wenn die Nazis damals geahnt hätten, daß heute Millionen Menschen ihren Urlaub in ganz ähnlichen Bettenburgen verbringen, und das freiwillig! Prora war übrigens von Anfang an falsch geplant, schon am gigantischen Trinkwasserbedarf wäre die Erholung der 20.000 KdF-Urlauber gescheitert. Robert Ley und Architekt Clemens Klotz können froh sein, daß ihnen der Zweite Weltkrieg dazwischenkam, der Führer hätte sicher getobt.
Anke, die sich in Muschelkreisen einen Ruf wie ein Donnerhall erworben hat, hält sich diesmal zurück und überführt nur wenige Muschelexemplare in ihre Privatsammlung. Wir kommen also nicht vors Strandgericht, puh.
Rügen wäre natürlich nichts ohne den Rasenden Roland. Wir gönnen uns die nostalgische Bahnfahrt gleich mehrfach und stellen überrascht fest, daß die Dampflok pünktlicher als die meisten ICEs ist. Es scheint sich eben doch zu rentieren, wenn man viel Kohle in die Eisenbahn steckt.
Auch kulinarisch kann man auf Rügen viel erleben. Im Hafenrestaurant Zum alten Fischer in Breege ordere ich zum Fisch die Empfehlung des Hauses, den Fischwein 11° aus der Südpfalz. Ein Stück Heimat in der Ferne, juhu! Doch schon der erste Schluck ist so wässerig, daß ich nach dem Namen des Winzers frage. "Weiß ich nicht, ist unser Hauswein", lautet die genervte Antwort. Ob man denn wenigstens den Ort in Erfahrung bringen könne? Nach kurzer Zeit kommt die Bedienung mit der Antwort zurück: Freiburg! Äh ... Freiburg? "Ja, Freyburg. In der Pfalz! An der Unstrut!" Vielleicht entwickeln Insulaner einfach ein anderes Raumgefühl.
Besagter Fischwein begegnet uns noch einmal im gemütlichen Bootshaus direkt an der Strandpromenade. Das gastronomische Highlight erleben wir hingegen gegen Ende unserer Reise im Surf'n Turf: tolle moderne Küche mit einer schönen Weinauswahl, man reicht uns unter anderem einen feinen Riesling vom Weingut Bürklin-Wolf.
Kurz vor Abreise werde ich abends auf den Straßen von Binz noch Zeuge eines Polizeizugriffs: Ein Missetäter wird von einem extrem durchtrainierten Polizisten mit Schlagstock gejagt und keine 10 Meter neben mir schließlich gestellt. Während sich der Flüchtling zu Boden wirft, höre ich ihn ängstlich flehen: "Bitte nicht niederhauen!".
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