Nach längerer Zeit gönnen Christoph und ich uns mal wieder einen Tag voller Hochkultur. Brillen-Trendsetter Alfred Brendel kommt ins Festspielhaus Baden-Baden und spielt die vier großen Klassiker. Das müssen wir natürlich erleben, auch wenn wir für unser Verlangen einen hohen Preis zahlen: Für unsere Plätze ziemlich weit hinten auf dem 2. Balkon müssen wir je 55 Euro auf den Tisch legen. Anderswo bekäme man dafür immerhin schon einen akzeptablen Wein.
Brendel kostet Kraft. Am Nachmittag vor dem Konzert genehmigen wir uns darum erst einmal eine zünftige Mahlzeit in der wunderschönen Schloß Schänke von Schloß Eberstein. Die Hauptmahlzeit nehmen wir im Saal ein, für den Kaffee wechseln wir auf die Terrasse und genießen dort den malerischen Ausblick auf Gernsbach. Allerdings für nur ca. drei Minuten - dann bekommen wir Besuch an unserem Tisch. Ein etwa 150 Kilogramm schwerer Taugenichts setzt sich zu uns und beginnt recht offensiv ein Gespräch. Offenbar ist er ebenfalls Musikliebhaber, denn er teilt uns mit, daß er bis jetzt schon knapp 19 Stunden Musik der Comedian Harmonists besitze. Die noch fehlenden 4 Stunden seien allerdings sehr rar und kaum aufzutreiben. Wir können diesen Informationen relativ wenig Nachrichtenwert abgewinnen und verlassen die Idylle daher früher als geplant.
Anschließend machen wir noch eine Spritztour durch den Schwarzwald und schauen uns pflichtgemäß die Schwarzenbachtalsperre an. Natürlich hat die Eigentümerin EnBW informative Schautafeln aufgestellt, allerdings auf der anderen Seite der Talsperre. Wir müssen also erst ganz unamerikanisch rüberspazieren, um zu erfahren, daß Wasserkraft den Treibhauseffekt vermindert.
Dann geht's nach Baden-Baden, ins Festspielhaus und in den zweitgrößten Opernsaal Europas. Erstaunlicherweise sind nicht alle Plätze belegt - zieht der alte Brendel etwa nicht mehr? Ich muß kurz an eine Diskussion über seine Werktreue denken, dann geht das Konzert aber auch schon los. Er beginnt mit Haydn und Beethoven, nach der Pause kommen Schubert und Mozart an die Reihe. Höhepunkt des Abends ist aber eindeutig das Dynamik-Kabinettstückchen im Adagio von Beethovens Klaviersonate Nr. 31: Ein Akkord wird mehrfach angeschlagen und dabei jeweils eine Idee lauter - aber eben nur eine Idee. Sensationell! finden die beiden erfahrenen Klassikfreunde Christoph und Tim, und nicken sich in dem tiefen Bewußtsein zu, daß all die entbehrungsreichen Jahre des kulturellen Lernens eine schicksalhafte Vorbereitung auf diese musikalische Sternstunde waren.
Was aber auch noch gesagt werden muß: Als Brendel nach der Pause zwei Impromptus von Schubert intoniert, wissen die beiden Experten für europäische Hochkultur eine ganze Weile lang nicht, was da eigentlich gespielt wird. Ganz eindeutig Beethoven! Oder doch Schubert? Ja, Schubert. Oder Mozart? Andererseits ... vielleicht doch Beethoven? Und so endet der Abend mit der Erkenntnis, daß für musikalische Expertise dasselbe gilt wie für alles andere auch: There is much room for improvement.